Der Bundesrat hat am 18. Oktober 2024 das Gesetz zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof (BGH) beschlossen. Nach Ausfertigung durch den Bundespräsidenten und Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt wird das Gesetz voraussichtlich Ende Oktober in Kraft treten. Das Gesetz soll die Gerichte entlasten, indem bei Massenverfahren die maßgeblichen Rechtsfragen als Leitentscheidungen durch den BGH geklärt werden können. Beispiele für solche Massenverfahren sind Dieselfälle und unzulässige Klauseln in Fitnessstudio-, Versicherungs- oder Bankverträgen.
Massenverfahren belasten weiterhin die deutsche Justiz. Divergierende Rechtsprechung zu denselben Rechtsfragen führt bei Klägern wie Beklagten zu Unsicherheit. Mit dem neuen Leitentscheidungsverfahren beim BGH sollen die Instanzgerichte entlastet werden. Ob das neue Leitentscheidungsverfahren tatsächlich mehr Effizienz und Rechtssicherheit in Massenverfahren bringt, ist aber fraglich.
Massenverfahren bestehen aus zahlreichen Einzelklagen mit ähnlichen Ansprüchen. Oftmals stellen sich in diesen Verfahren dieselben rechtlichen Kernfragen. Ziel des neuen Verfahrens ist es, dem BGH die Möglichkeit zu geben, aus laufenden Revisionsverfahren bestimmte Verfahren als Leitentscheidungsverfahren auszuwählen. Diese ausgewählten Verfahren sollen eine breite Palette offener Rechtsfragen umfassen, die für eine „Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung“ sind.
Sobald der BGH diese Fragen klärt, könnten die noch anhängigen gleichartigen Fälle bei den Instanzgerichten auf Basis dieser Leitentscheidung einheitlich entschieden und damit für die Kläger schnell und unkompliziert abgeschlossen werden. Eine solche Leitentscheidung soll eine Signalwirkung entfalten und den Instanzgerichten Orientierung bieten, wie der BGH die jeweiligen Rechtsfragen beurteilt. Dies könnte die Gerichte von einer Vielzahl weiterer, gleichgelagerter Klagen entlasten.
Die Leitentscheidung soll dabei auch dann ergehen können, wenn die Revision aus taktischen Gründen zurückgezogen wird oder das Verfahren auf andere Weise endet. Bisher war es oft so, dass Parteien durch Revisionsrücknahmen höchstrichterliche Urteile verhinderten. Durch die Möglichkeit der Leitentscheidung soll nun eine Klärung auch in diesen Fällen herbeigeführt werden.
In seiner Leitentscheidung konzentriert sich der BGH auf die Aspekte, die für Massenverfahren relevant sind. In der Begründung muss der BGH darlegen, wie er unter Berücksichtigung des zugrundeliegenden Sachverhalts über die wesentlichen Rechtsfragen entschieden hätte. Allerdings fällt der BGH keine Entscheidung in der Sache selbst, sodass die Leitentscheidung weder für die Instanzgerichte bindend ist noch direkte Auswirkungen auf das konkrete Revisionsverfahren hat. Vielmehr dient die Leitentscheidung als Orientierungshilfe für Gerichte und die Öffentlichkeit und gibt einen Einblick, wie die Entscheidung über die Rechtsfragen ausgesehen hätte.
Die Erwartung, dass Leitentscheidungen Rechtssicherheit schaffen, ist jedoch trügerisch – und das aus zwei Gründen. Erstens wegen der fehlenden Bindungswirkung. Gerade in Massenverfahren zeigt sich, dass zur abschließenden Klärung der Rechtslage oft mehrere höchstrichterliche Entscheidungen notwendig sind, da die Umstände einzelner Fälle vom Leitentscheidungsfall abweichen und dadurch unterschiedliche Entscheidungen erforderlich sein können. Zweitens muss der BGH mit seiner Entscheidung bis nach Eingang der Revisionserwiderung oder jedenfalls einen Monat nach Zustellung der Revisionsbegründung warten. Dadurch können ihm – durch geschickte prozesstaktische Manöver – viele Fälle „durch die Lappen gehen“. Dies wirft die Frage auf, ob der Zweck des Leitentscheidungsverfahrens untergraben wird. Dies könnte der Fall sein, wenn die Revision innerhalb dieses Zeitraums zurückgenommen und dem BGH somit die Möglichkeit entzogen wird, das Verfahren zur Leitentscheidung zu erklären. Außerdem bleibt den Parteien bereits vorher Raum für taktische Überlegungen, um eine Leitentscheidung zu verhindern. Die Parteien werden im Zweifel bereits in der Berufungsinstanz abwägen, ob sie das Verfahren überhaupt in die Revisionsinstanz bringen wollen. Ob der Gesetzgeber hier nur halbherzige Maßnahmen ergriffen hat, bleibt abzuwarten.
Die Instanzgerichte haben die Möglichkeit, Parallelverfahren bis zur Entscheidung des BGH auszusetzen. Dies regelt der neu eingeführte § 148 Abs. 4 ZPO. Ursprünglich war im Gesetzgebungsverfahren geplant, dass die Aussetzung nur mit Zustimmung beider Parteien erfolgen sollte. Nun liegt es jedoch im Ermessen des Gerichts, ein Parallelverfahren auch ohne die Zustimmung der Parteien auszusetzen, um die Leitentscheidungen des BGH in diesen Verfahren direkt berücksichtigen zu können. Dafür ist lediglich eine Anhörung der Parteien erforderlich. Eine Fortführung des Verfahrens trotz eines parallelen Leitentscheidungsverfahrens soll nur in Ausnahmefällen möglich sein.
Gegen die Entscheidung des Gerichts, ein Verfahren auszusetzen, kann nach § 252 ZPO eine sofortige Beschwerde eingelegt werden. Andernfalls haben die Parteien erst nach Ablauf eines Jahres nach der Aussetzung die Möglichkeit, einen Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens zu stellen. Diese Regelung steht im Gegensatz zur Ruhensanordnung nach § 251 ZPO, die nur auf gemeinsamen Antrag der Parteien erfolgt, wenn eine höchstrichterliche Klärung in einem Parallelverfahren läuft. Zudem können die Parteien das Verfahren nach § 251 ZPO jederzeit wieder aufnehmen.
Parteien aus Parallelverfahren haben keine Möglichkeit, im Leitentscheidungsverfahren angehört zu werden und damit mitzuwirken. Das ist weder verwunderlich noch zu beanstanden. Problematisch bleibt jedoch, dass eine Leitentscheidung ergehen kann, ohne dass der Revisionsgegner gehört wird. Auch wenn dies keinen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör darstellt, weil die Leitentscheidung des BGH gerade keine direkten Auswirkungen auf das konkrete Revisionsverfahren hat; es unterbleibt aber eine Auseinandersetzung des BGH mit den Argumenten beider Parteien. Es ist nicht auszuschließen, dass der BGH im Fall einer Anhörung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
Alternativ hätte der Gesetzgeber ein Vorabentscheidungsverfahren, ähnlich dem Vorlageverfahren beim Europäischen Gerichtshof, oder eine Ausweitung der Sprungrevision in Betracht ziehen können. Diese Vorschläge wurden zwar im Rechtsausschuss diskutiert, aber nicht ins laufende Gesetzgebungsverfahren aufgenommen. Für den vor einer Änderung der Zivilprozessordnung regelmäßig einhergehenden Diskurs mit Wissenschaft und Praxis war vermutlich nicht ausreichend Zeit. Dadurch müssen zahlreiche Einzelverfahren weiterhin den regulären Instanzenweg durchlaufen, bevor der BGH ein Verfahren priorisieren kann. Eine tatsächliche Beschleunigung und Entlastung der Gerichte ist daher erst in mehreren Jahren zu erwarten, wenn der Ansturm an erstinstanzlichen Klagen vermutlich bereits abgeebbt ist.
Das Gesetz zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens zeigt, dass Massenverfahren zunehmend an Bedeutung gewinnen und daher in den Fokus des Gesetzgebers gerückt sind. Ob das angestrebte Ziel – nämlich die Entlastung der Instanzgerichte und die Schaffung von Rechtssicherheit für klagende Verbraucher und beklagte Unternehmen – tatsächlich erreicht wird, bleibt jedoch fraglich. In der Praxis dauert es oft mehrere Jahre, bis ein Verfahren die dritte Instanz erreicht. Und ob es den Weg dahin überhaupt findet, liegt letztlich in den Händen und taktischen Erwägungen der Parteien. Damit kann die Flut an erstinstanzlichen Klagen durch das Leitentscheidungsverfahren nicht eingedämmt werden.
Der Gesetzgeber hat es versäumt, einen mutige(re)n Schritt zu gehen, wie etwa ein Vorlage- oder Vorabentscheidungsverfahren einzuführen oder die Sprungrevision auszuweiten. Es ist zu erwarten, dass es noch einige Jahre und weitere Massenverfahren braucht, bevor der Gesetzgeber einen echten Fortschritt in Richtung Effizienz bei Massenverfahren macht.
Bis dahin müssen beklagte Unternehmen weiterhin viel Geduld aufbringen.