In einer Zeit, in der der Klimawandel und seine Folgen immer spürbarer werden, gewinnt das Thema der nachhaltigen öffentlichen Beschaffung zunehmend an Bedeutung. Mit Urteil vom 09.04.2024 hat nun auch die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) erstmals in der Rechtssache „Verein KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland“ (Antragsnummer 53600/20) festgestellt, dass die unzureichende Klimapolitik eines Staates Menschenrechte verletzen kann. Gerichtliche Verfahren mit Umwelt- und Klimaschutzbezügen gewinnen inzwischen stark an öffentlicher Aufmerksamkeit. So zuletzt insbesondere auch durch den ausgiebig diskutierten Klimabeschluss des BVerfG aus März 2021 (BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021 – 1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20).
Die Notwendigkeit, ein Bewusstsein für nachhaltige und umweltfreundliche Praktiken in jeden Aspekt unserer Gesellschaft zu integrieren, wird so immer deutlicher. Auch die Neuausrichtung der öffentlichen Beschaffung hin zu ökologischeren und innovativeren Ansätzen entwickelt sich zunehmend zu einer rechtlich gebotenen Notwendigkeit. Nachhaltigkeit in der öffentlichen Beschaffung bedeutet, langfristig zu denken und Produkte sowie Dienstleistungen zu wählen, die sowohl die Umwelt als auch die Gesellschaft schützen bzw. geringstmöglich belasten.
Der EGMR hat am 09.04.2024 entschieden (application no. 53600/20 - „Verein KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland”), dass die Schweiz mit ungenügender Klimapolitik die Menschenrechte der Klägerinnen verletzt, indem die Schweiz nicht das Nötige gegen die fortschreitende Klimaerwärmung tut. Konkret stellt das Gericht eine Verletzung von Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention fest (Recht auf Privat- und Familienleben):
„Zusammenfassend gab es einige kritische Lücken im Prozess der schweizerischen Behörden, ein relevantes innerstaatliches Regelwerk zu etablieren, einschließlich des Versäumnisses, nationale Grenzwerte für Treibhausgasemissionen durch ein Kohlenstoffbudget oder auf andere Weise zu quantifizieren. Weiterhin hat das Gericht festgestellt, dass, wie von den zuständigen Behörden anerkannt, der Staat zuvor seine vergangenen Ziele zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen nicht erreicht hat. Indem der beklagte Staat nicht rechtzeitig und auf angemessene und konsistente Weise hinsichtlich der Ausarbeitung, Entwicklung und Implementierung des relevanten gesetzgeberischen und administrativen Rahmens handelte, überschritt er seinen Beurteilungsspielraum und erfüllte seine positiven Verpflichtungen im gegenwärtigen Kontext nicht.
Die oben genannten Feststellungen genügen dem Gericht, um festzustellen, dass es zu einer Verletzung von Artikel 8 der Konvention gekommen ist.“ (EGMR, application no. 53600/20, Rn. 573 f. - „Verein KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland”)
Das Urteil stellt einen wegweisenden Präzedenzfall für alle 46 Mitgliedsstaaten des Europarats dar. Es ermöglicht Bürgerinnen und Bürgern dieser Länder, ihre Regierungen dazu aufzufordern, die eigene Klimapolitik im Licht der Menschenrechte zu überdenken und anzupassen.
Auch die Vergabestellen der öffentlichen Hand werden vor diesem Hintergrund unter wachsenden Druck geraten, ihre Beschaffungspraktiken zu überdenken. Nachhaltigkeit wird hierbei immer seltener ein freiwilliges Plus, sondern eine rechtliche verpflichtende Anforderung sein. Hierzu gibt es schon jetzt einige vergaberechtlich verbindliche Vorgaben (z.B. § 67 Abs. 5 VgV; § 8c EU VOB/A; § 2 Abs. 4 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Beschaffung energieeffizienter Leistungen durch Dienststellen des Bundes (AVV-EnEff); Art. 85 Abs. 1 und Abs. 3 VO (EU) 2023/1542 (Batterie-Verordnung)). Vor dem Hintergrund von Klimaklagen wie der vorgenannten ist absehbar, dass die Vorgaben zur Ausgestaltung von Vergabeverfahren anhand von Nachhaltigkeitskriterien in Zukunft noch viel größere Bedeutung erlangen werden.
Doch wie lässt sich dieser Anspruch in die Praxis umsetzen? Wie können öffentliche Auftraggeber sicherstellen, dass ihre Projekte sowohl umweltfreundlich als auch sozial verantwortlich sind?
Es beginnt mit der bewussten Entscheidung für Produkte und Dienstleistungen, die geringere Auswirkungen auf die Umwelt haben, sei es durch reduzierte CO2-Emissionen, geringeren Energieverbrauch oder die Förderung sozialer Gerechtigkeit. Doch die Umsetzung dieser Ziele erfordert nicht nur das Wissen um die Verfügbarkeit solcher Alternativen, sondern auch das Verständnis der rechtlichen Rahmenbedingungen, die eine solche nachhaltige Beschaffung unterstützen. Das Vergaberecht bietet hierfür einen Rahmen, der es ermöglicht, Umweltschutz, CO2-Einsparungen und Lebenszykluskosten in den Beschaffungsprozess zu integrieren und. Allerdings erfordert dies ein Umdenken und teilweise auch neue Kompetenzen bei den Vergabestellen.
Die Forderung nach einer nachhaltigen öffentlichen Beschaffung und die zunehmende Bedeutung von Klimaklagen verweisen auf einen grundlegenden Wandel in unserem Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft. Öffentliche Auftraggeber stehen hier in der Verantwortung, diesen Wandel aktiv mitzugestalten. Dabei geht es nicht nur darum, rechtlichen Verpflichtungen nachzukommen, sondern auch darum, die Chancen zu ergreifen, die eine nachhaltige Beschaffung für Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft bietet.
Für öffentliche Auftraggeber bieten diese Entwicklungen eine Chance, Vorreiter in der nachhaltigen Beschaffung zu werden. Das Vergaberecht bietet bereits jetzt viele Möglichkeiten, Umwelt- und Sozialkriterien in den Vergabeprozess einzubinden, von der Auswahl der Produkte bis zur Entscheidung für bestimmte Dienstleistungen. Dabei geht es nicht nur um die Erfüllung rechtlicher Pflichten, sondern auch darum, mit gutem Beispiel voranzugehen und den Markt für nachhaltige Produkte und Dienstleistungen aktiv zu formen.
Die öffentliche Hand hat somit die Möglichkeit, durch ihre Beschaffungsentscheidungen einen signifikanten Beitrag zum Umweltschutz zu leisten und gleichzeitig langfristig Kosten zu sparen. Dies erfordert jedoch ein Umdenken und die Bereitschaft, traditionelle Beschaffungspraktiken zu hinterfragen und neue, nachhaltige Wege zu beschreiten.