Das AGG und der Rechtsmissbrauch

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Dr. Martin Nebeling

Partner
Deutschland

Als Fachanwalt für Arbeitsrecht bin ich als Partner im Arbeitsrechtsteam in Deutschland und unserer Praxisgruppe Internationales Arbeitsrecht tätig und biete breitgefächerte Expertise in komplexen arbeitsrechtlichen Sachverhalten.

Das AGG verfolgt den Zweck, diejenigen zu schützen, die aufgrund bestimmter Merkmale benachteiligt werden. Die Gleichbehandlung von Beschäftigten gehört zu den Grundpfeilern eines nach ESG-Kriterien ausgerichteten Unternehmens. Umso tragischer ist die seit Bestehen des AGG zu beobachtende Entwicklung von Modellen, die darauf ausgelegt sind, sich zu bereichern und den Zweck des AGG zu unterlaufen.

Das „AGG-Hopping“ scheint zu einem regelrechten Trend zu werden und versetzt Arbeitgeber regelmäßig ungerechtfertigt in Erklärungsnot.

Die Sekretärin als „Geschäftsmodell“

Unlängst hatte sich das LAG Hamm mit einem derartigen Fall auseinandergesetzt. Der zum Industriekaufmann ausgebildete Kläger klagte vor dem LAG auf Entschädigung nach dem allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Er bewarb sich in der Vergangenheit, und auch im vorliegenden, Fall mehrfach auf Stellenausschreibungen für eine „Sekretärin“ und klagte im Anschluss auf Entschädigung aufgrund einer Benachteiligung wegen des Geschlechts.

Die Beklagte schrieb eine Stelle aus, in der ausdrücklich nach einer „Bürokauffrau/Sekretärin“ gesucht worden ist. Auf diese Stelle bewarb sich der Kläger, ohne von der Beklagten eine Rückmeldung zu erhalten. Ohne außergerichtlich Kontakt zu der Beklagten aufzunehmen, reichte der Beklagte Klage beim ArbG Dortmund ein, mit dem Verlangen nach einer Entschädigungszahlung. Das ArbG entschied, das Entschädigungsverlangen zurückzuweisen und begründete dies mit dem Einwand des Rechtsmissbrauchs nach § 242 BGB. Dem folgt das LAG.

Die Rechtsprechung des BAG und des EuGH zum Rechtsmissbrauch

Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist Rechtsmissbrauch anzunehmen, wenn sich ein Bewerber nicht um der Stelle wegen beworben hat, sondern um den formalen Status als Bewerber zu erlangen mit dem Ziel, ein Entschädigungsverlangen geltend machen zu können (BAG, 14.06.2023 - 8 AZR 136/22, Rn. 48).

Ob Rechtsmissbrauch angenommen werden kann, hängt davon ab, ob ein objektives, wie auch ein subjektives Element vorliegt. Das objektive Element ergibt sich dabei aus einer Gesamtbetrachtung der objektiven Umstände. Erforderlich ist, dass das Ziel, der Schutz des AGG nicht erreicht wird, obwohl die formalen Bedingungen des Gesetzes eingehalten worden sind. Im Hinblick auf das subjektive Element muss sich dieses aus den objektiven Umständen ergeben und die Absicht des Bewerbers erkennen lassen, dass sich dieser einen ungerechtfertigten Vorteil aus dem AGG verschaffen will, indem er die Voraussetzungen des Entschädigungsanspruches willkürlich schafft (vgl. EuGH, 28.01.2015 - C 417/13, Starjakob, Rn. 56).

Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten ist insbesondere zu bejahen, wenn sich hinter dem Entschädigungsverlangen ein systematisches und zielgerichtetes Vorgehen des Bewerbers verbirgt (BAG, 11.08.2016 - 8 AZR 4/15, Rn. 71).

Die Entscheidung des LAG Hamm

Nach Anwendung dieser Grundsätze folgte das LAG der Ansicht des erstinstanzlichen Gerichts und bejahte ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Klägers.

Das objektive Element sei zu bejahen. Im Rahmen der Gesamtwürdigung habe sich ergeben, dass dem Kläger der Status als benachteiligter Bewerber zukomme, er aber dennoch keine Entschädigung verlangen könne, da der Zweck des § 15 Abs. 2 AGG nicht erreicht würde. Dies begründete das LAG mit verschiedenen Anhaltspunkten.

  1. Wohnort des Klägers

    Nach Auffassung des LAG spricht bereits der Wohnort des Klägers, der 170 Kilometer entfernt von der Arbeitsstelle belegen ist, für die Annahme, dass ein ernsthaftes Interesse an der Stelle nicht bestand. Dass der Kläger seinen Willen zu einer örtlichen Veränderung in seinem Anschreiben zum Ausdruck brachte, verneinte das LAG und bewertete die Aussage des Klägers, er suche derzeit nach einer neuen Wohnung im Umkreis der Beklagten oder könne sich einen Umzug vorstellen, als widersprüchlich und leere Floskel. Diese Beurteilung beruhte insbesondere auch auf dem Verhalten des Klägers im Verlauf des Prozesses. Er verfing sich dabei in widersprüchlichen Aussagen in Bezug auf einen etwaigen Willen zum Umzug.

  2. Inhalt und Art der Bewerbung

    Als weiteren Anhaltspunkt bewertete das LAG die Bewerbung selbst. Diese wies nach Ansicht des Gerichts keinen Bezug zur Branche oder der Beklagten auf und ging nicht auf die in der Stellenausschreibung geforderten Qualifikationen ein. Dies wertete das LAG als provokatives Verhalten, das darauf ausgelegt war, eine Absage hervorzurufen. Besonders hervorzuheben ist der Hinweis des LAG, dass es nicht verkennt, dass nach höchstrichterlicher Rechtsprechung kein Erfahrungssatz existiert, der es erlaubt, von dem Aufwand, den sich eine Person im Hinblick auf eine Bewerbung gemacht hat, Rückschlüsse auf die Ernsthaftigkeit der Bewerbung zu ziehen. Dennoch ist die Mühe, die sich ein Bewerber gemacht hat, auch nach höchstrichterlicher Rechtsprechung als Indiz zu berücksichtigten.

    Der Kläger reichte vorliegend keinerlei aussagekräftige Unterlagen ein. Der Beklagten sei es daher nicht möglich gewesen, die Geeignetheit des Bewerbers überhaupt zu beurteilen.

  3. Unvereinbarkeit von Vollzeitstelle und Vollzeitstudium

    Daneben sprach aus Sicht des LAG gegen den ernsten Willen des Klägers, die Stelle zu erlangen, dass es sich um eine Vollzeitstelle handelte, der Kläger aber nach eigenen Angaben einem Fernstudium nachging. Von einem Willen zur Aufgabe des Studiums ging das LAG nicht aus. Dazu hatte der Kläger auch nichts vorgetragen.

  4. Prozesshistorie

Hauptanhaltspunkt und entscheidend war die eindrucksvolle Prozesshistorie des Klägers. Der Kläger bewarb sich anhaltend und bundesweit auf Stellen, die erkennbar nicht geschlechtsneutral ausgeschrieben waren. Er führte innerhalb von 15 Monate 11 Verfahren vor dem Arbeitsgericht Berlin, mit dem Ziel eine Entschädigungszahlung zu erlangen. Daneben waren weitere Verfahren bei anderen Gerichten anhängig. All diese Verfahren entsprachen nach Ansicht des LAG einem immer gleichen Muster.

Die Hürde für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs im Zusammenhang mit mehreren geführten Entschädigungsprozessen sind grds. hoch. So reicht es nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht aus, dass ein Bewerber mehrere erfolglosen Bewerbungen versandt und daraufhin Entschädigungsprozesse geführt hat. Vielmehr müssen weitere Umstände hinzutreten, die den Rechtsmissbrauch im konkreten Verfahren begründen (BAG, 11.08.2016 - 8 AZR 4/15, Rn. 60). Diese sah das LAG als gegeben an.

Der Kläger passe sein Bewerbungsverhalten je nach gewonnen Erkenntnissen aus bereits geführten Prozessen an und optimiere seine zukünftigen Bewerbungen im Hinblick auf weitere Entschädigungsprozesse. Nach Ansicht des Gerichts „lernte“ er aus Fällen, in denen ihm der Rechtsmissbrauch erfolgreich entgegenhalten worden ist. Mit diesem Umstand begründete das Gericht die Berücksichtigung der geführten Entschädigungsprozesse als Indiz und bejahte das objektive Element nach einer Gesamtwürdigung der vorgenannten Umstände.

Nach Ansicht des LAG ist auch das subjektive Element gegeben, da sich aus den objektiven Umständen die Absicht ergebe, einen ungerechtfertigten Vorteil durch Herbeiführen des formalen Status eines Bewerbers zu erlangen. Das LAG argumentiert dabei insbesondere mit der Anpassung des Bewerbungsverhaltens nach verlorenen Entschädigungsprozessen und mit dem konkreten Verhalten des Klägers im Prozess.

Der Kläger hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Eine Beurteilung durch das BAG bleibt abzuwarten. 

Bedeutung für die Praxis

In Anbetracht des Ausmaßes, den das „AGG-Hopping“ derzeit annimmt, ist die Entscheidung des LAG Hamm zu begrüßen.

Durch das Streichen der Ernsthaftigkeit der Bewerbung als Voraussetzung für einen Entschädigungsanspruch hat das BAG den „AGG-Hoppern“ Tür und Tor geöffnet und zugleich durch die Entwicklung hoher Anforderungen an den Einwand des Rechtsmissbrauchs die Verteidigungsmöglichkeit von Arbeitgebern massiv eingeschränkt. Viele Arbeitgeber sahen und sehen sich daher zu Unrecht Entschädigungsansprüchen ausgesetzt. Doch nicht nur die Arbeitgeber selbst sondern auch Sinn und Zweck des AGG leiden massiv unter dem Verhalten der „AGG-Hopper“. Dies hat schlussendlich nichts mehr mit dem Ziel der Gleichbehandlung zu tun und führt zu einer Entwertung des Schutzes des AGG.

Es bleibt zu hoffen, dass sich das BAG gegenüber dem rechtsmissbräuchlichen Verhalten des Klägers klar positioniert und dem Schutzzweck des AGG die Bedeutung zukommen lässt, die es verdient.

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