Die Verunsicherung ist groß: Zuerst 2019 die Entscheidung des EuGH (Az.: C-55/18) und dann des BAG (Az.: 1 ABR 22/21) im Jahr 2022 zur Erfassung der Arbeitszeit. Danach der Versuch des Gesetzgebers, das Arbeitszeitgesetz neu zu fassen. Der entsprechende Referentenentwurf hat das Kabinett allerdings nie verlassen. Mit der Veröffentlichung des Koalitionsvertrags eröffnet sich nun ein weiteres Kapitel.
Die derzeitige Rechtslage ist eindeutig. Es gilt das Arbeitszeitgesetz (ArbZG): § 16 Abs. 2 ArbZG verpflichtet den Arbeitgeber nicht zu einer vollständigen Aufzeichnung der Arbeitszeit. Der Arbeitgeber muss nur jede über die achtstündige werktägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit und jegliche Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen aufzeichnen. Weiterhin muss über einen Zeitraum von sechs Monaten erkennbar sein, dass die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 48 Stunden eingehalten wird.
Die höchstrichterlichen Entscheidungen von EuGH und BAG wirken inter partes, zwischen den Parteien des Rechtsstreits. Die Entscheidungen beanspruchen damit keine allgemeine Gültigkeit für andere Unternehmen oder die Allgemeinheit.
In seiner Entscheidung legte des BAG das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) entsprechend aus: Nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG bestehe die Pflicht des Arbeitgebers, ein System einzuführen, mit dem die vom Arbeitnehmer geleistete Arbeitszeit erfasst wird. Eine elektronische Aufzeichnungspflicht und die Aufzeichnung der konkreten Pausenzeiten sehen weder der EuGH noch das BAG in ihren Entscheidungen vor. Zu erfassen sind der Beginn und das Ende der Arbeitszeit. Außerdem muss die Einhaltung der Ruhezeiten von elf Stunden feststellbar sein.
Wir gehen daher grundsätzlich davon aus, dass man sich auf das Arbeitszeitgesetz verlassen kann. Bei einer Kontrolle durch die zuständigen Behörden, in der Regel das Gewerbeaufsichtsamt, kann dieses aber Verwaltungsakte erlassen und diese mit konkreten Vorgaben versehen und dann auch mit Strafen bewehren. Im Zweifel gilt hier auch § 130 OWiG. Der aktuelle Koalitionsvertrag ist zu diesem Thema knapp und enthält lediglich einige wenig detaillierte Formulierungen. Das Arbeitszeitgesetz soll eine Änderung erfahren, nach der eine wöchentliche statt der täglichen Höchstarbeitszeit zulässig sein soll und Zuschläge für Mehrarbeit künftig steuerfrei werden sollen. Vertrauensarbeitszeit soll unter Berücksichtigung der Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie weiter möglich bleiben.
Viele Betriebsräte, Belegschaften und auch Arbeitgeber möchten seit geraumer Zeit eine rechtssichere Regelung treffen. Was macht man also, wenn eine Regelung notwendig ist, es aber weiterhin unklar bleibt, was die Zukunft bringt?
Unsere Empfehlung: Solange keine Klarheit geschaffen wird, sollten bestehende Regelungen beibehalten werden. Eine neue Regierung könnte das Thema Arbeitszeit vorrangig bearbeiten. Welches Vorgehen empfiehlt sich, wenn es an bestehenden Regelungen mangelt, die vorhandenen Reglungen erkennbar nicht zukunftstauglich sind oder wenn sowohl Betriebsparteien als auch die Belegschaft eine sofortige Lösung anstreben?
Die Einführung einer Pilotphase erweist sich stets als strategisch kluger Ansatz, um Konzepte in der Praxis zu erproben und ihre Wirksamkeit unter realen Bedingungen zu evaluieren. Eine zeitlich begrenzte Testperiode ermöglicht es allen Beteiligten, wertvolle Erfahrungen zu sammeln, potenzielle Schwachstellen frühzeitig zu identifizieren aber auch notwendige Anpassungen vorzunehmen, sofern der Gesetzgeber zeitnah tätig wird. Die gewonnenen Erkenntnisse aus der Pilotphase bilden schließlich eine solide Entscheidungsgrundlage für die weitere Vorgehensweise.
Alternativ bietet sich die Implementierung einer agilen Betriebsvereinbarung an, bei dem zunächst ein grundlegendes Rahmenwerk etabliert wird, das sukzessive durch spezifische Komponenten erweitert und verfeinert werden kann. Diese Form ermöglicht es den Betriebsparteien, schrittweise und bedarfsorientiert vorzugehen, während gleichzeitig die notwendige Rechtssicherheit gewährleistet bleibt.
Trotz aller Flexibilität im Gestaltungsprozess sollten folgende Grundsätze Berücksichtigung finden:
Die aktuelle Rechtslage verlangt bereits jetzt eine gewisse Form der Arbeitszeitdokumentation. Die einschlägigen Bestimmungen in § 16 Abs. 2 sowie § 22 Nr. 9 ArbZG lassen diesbezüglich keinen Interpretationsspielraum zu. Diese Aufzeichnungen müssen so gestaltet sein, dass Aufsichtsbehörden bei Kontrollen zweifelsfrei nachvollziehen können, ob die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden. Dies betrifft insbesondere die Einhaltung der durchschnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden innerhalb eines Sechsmonatszeitraums, die Gewährleistung der vorgeschriebenen Ruhephase von 11 Stunden sowie die Beachtung der täglichen Arbeitszeitgrenze von maximal zehn Stunden.
Die faktische Arbeitszeitermittlung kann bereits heute durch die Nutzungsdaten elektronischer Arbeitsmittel erfolgen. Im Fokus aktueller Regelungsbedarfe stehen daher die Festlegung geeigneter Arbeitszeitrahmen, gegebenenfalls die Definition verbindlicher Anwesenheitszeiten sowie - von besonderer Bedeutung - die Präzisierung der Befugnisse von Vorgesetzten, im Rahmen ihres Weisungsrechts sowohl zeitliche als auch örtliche Arbeitsparameter konkret festzulegen. Essenziell ist die Ausgestaltung rechtlich zulässiger Kompensationsmechanismen für geleistete Mehrarbeit.
Weiterhin regelungsbedürftig ist der Umgang mit Diskrepanzen zwischen der arbeits- bzw. tarifvertraglich vereinbarten Arbeitszeit und der tatsächlich geleisteten Mehr- oder Minderarbeit unter Berücksichtigung der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Dies umfasst insbesondere die vergütungsrelevanten Konsequenzen von Arbeitszeitabweichungen sowie spezifische Regelungen für Dienstreisen, Betriebsferien, des Weges zur Arbeit – insbesondere auch aus dem Homeoffice, von der Workation - sowohl hinsichtlich deren zeitlicher Bewertung als auch bezüglich der Wege vom mobilen Arbeitsplatz oder vom Telearbeitsort zum Betriebs- oder Einsatzort.
Der bestehende rechtliche Rahmen, bestehend aus der EU-Richtlinie und den Bestimmungen des ArbZG, bietet gegenwärtig eine Grundlage für die Entwicklung betriebsspezifischer Arbeitszeitmodelle bei entsprechendem Regelungsbedarf. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass derartige Vereinbarungen - insbesondere Vertrauensarbeitszeit, Anforderungen an die Zeiterfassung sowie wöchentlicher Arbeitszeitvorgaben – nach Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung angepasst werden müssen.
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