Fragen des Versicherungsschutzes bei Verstößen gegen die lieferkettenbezogene Compliance sind nicht nur haftungsrechtlich von Bedeutung (vgl. hierzu unser Artikel zum Versicherungsschutz für Lieferketten-Compliance), sondern können auch unmittelbare Auswirkungen auf die Erzeugnisse selbst haben. Konkret geht es etwa um Verwendungsbeschränkungen oder Verschrottungs- und Rückrufanweisungen für bestimmte Erzeugnisse. Dies ist mit Blick auf die allgemeine Lieferketten-Compliance nach dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) und der EU-Lieferkettenrichtlinie (CSDDD) noch Zukunftsmusik, aber in Bezug auf bestimmte Rohstoffe (vor allem Kautschuk) im Rahmen der EU-Entwaldungsverordnung und bald auch nach der EU-Zwangsarbeitsverordnung bereits Realität.
Gegenstand der Produkthaftpflichtversicherung ist die gesetzliche Haftpflicht des Versicherungsnehmers für Personen-, Sach- oder sich daraus ergebende Vermögensschäden, soweit diese durch vom Versicherungsnehmer hergestellte oder gelieferte Erzeugnisse verursacht werden. Die erweiterte Produkthaftpflichtversicherung erstreckt den Versicherungsschutz vereinfacht gesagt auf Vermögensschäden infolge der Lieferung mangelhafter Erzeugnisse. Die Rückrufkostenversicherung ergänzt die Produkthaftpflichtversicherung weiter. Gegenstand der Rückrufkostenversicherung ist die gesetzliche Haftpflicht des Versicherungsnehmers für Vermögensschäden, die dadurch entstehen, dass aufgrund objektiver Tatsachen oder aufgrund behördlicher Anordnung zur Vermeidung von Personenschäden ein Rückruf des Produkts des Versicherungsnehmers durchgeführt wird/wurde. Aus der Haftpflichtversicherungsstruktur folgt, dass dem Versicherungsnehmer nach Wahl des Versicherers Deckung in Form der Abwehr unberechtigter Inanspruchnahme oder Freistellung gewährt werden kann.
Durch die rege gesetzgeberische Tätigkeit auf dem Gebiet der lieferkettenbezogenen Compliance ist eine neue Kategorie mangelhafter Produkte im Begriff der Entstehung: Das Produkt/Erzeugnis, das Vorschriften der Lieferketten-Compliance widerspricht und daher auf einem bestimmten Markt nicht gehandelt werden darf oder zurückgerufen werden muss. Das Rechtsfolgensystem steckt insoweit noch in den Kinderschuhen und die CSDDD (vgl. hierzu unser Artikel Weg frei für die Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD)) sieht solche Rechtsfolgen ebenso wie das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz (LkSG) (noch) nicht vor. Es zeigt sich aber ein deutlicher Trend zu diesen Sanktionen. De lege lata finden sich derart strenge Regeln bereits in der Entwaldungsverordnung (Art. 24 der Verordnung (EU) 2023/1115, nachfolgend „Entwaldungsverordnung“; vgl. hierzu unser Artikel Entwaldungsfreie Lieferketten – Inhalte und Auswirkungen der EU-Entwaldungsverordnung) und de lege ferenda im Entwurf der Zwangsarbeitsverordnung (vgl. Art. 20 ff. des Entwurf der Zwangsarbeitsverordnung TA hierzu unser Artikel Trilog-Einigung über Verbot von in Zwangsarbeit hergestellten Produkten) vorgesehen. Die konkrete Reichweite des Rechtsfolgensystems ist dabei noch nicht vollständig ausdifferenziert insbesondere mit Blick auf die Reichweite der Lieferkette. Die Entwaldungsverordnung enthält aber bereits starke Indizien, dass auch höhere Verarbeitungsstufen in der Lieferkette ein Endprodukt „infizieren“ könnte (etwa Art. 2 Nr. 19, Art. 10 Abs. 1 lit. i), Art. 16 Abs. 3, Erwägungsgrund 39 der Entwaldungsverordnung).
In der erweiterten Produkthaftpflichtversicherung besteht optional ein Deckungsanspruch bezüglich des Austausches mangelhafter Einzelteile von Erzeugnissen des Versicherungsnehmers. Aufwendungen für einen Rückruf (Ziffer 6.2.8. Produkthaftungsmodell) sind naturgemäß ebenso in der Produkthaftpflichtversicherung ausgeschlossen wie ein bewusstes Abweichen von Rechtsvorschriften (Ziffer 6.2.4. Produkthaftungsmodell). Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist aber der Ausschluss bezüglich „Ansprüche, die daraus hergeleitet werden, dass gelieferte Sachen oder Arbeiten mit einem Rechtsmangel behaftet sind (z. B. Schäden aus der Verletzung von Patenten, gewerblichen Schutzrechten, Urheberrechten, Persönlichkeitsrechten, Verstößen in Wettbewerb und Werbung)“ (Ziffer 6.2.4. Produkthaftungsmodell). Insoweit sollten sich Unternehmen nicht unmittelbar abschrecken lassen, denn bei dem Begriff des „Rechtsmangel“ handelt es sich um einen feststehenden Rechtsbegriff, der sich in § 435 BGB findet und vom Bundesgerichtshof seit vielen Jahren sehr eng ausgelegt wird (vgl. etwa BGH NJW 2020, 3312 Rn. 27-32). Vor dem Hintergrund dieses engen Verständnisses des Begriffs bestehen gute Argumente, dass eine Deckung aus der Produkthaftpflichtversicherung jedenfalls unter Heranziehung dieses Arguments nicht verweigert werden kann.
Auch in Bezug auf die Produktrückrufversicherungen bestehen argumentative Anhaltspunkte, dass im Falle eines Rückrufs aufgrund eines Verstoßes gegen die Entwaldungsverordnung oder künftig gegen die Zwangsarbeitsverordnung Deckung nach bestehenden Produktrückrufversicherungen verlangt werden kann. Neben diversen denkbaren Ausschlüssen wird sich in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage stellen, ob sich argumentativ ein Rückruf zur Vermeidung von „Personen- oder Sachschäden“ begründen lässt (Ziffer 1.1. Rückrufkostenversicherung, Ziffer 1.1. Kfz-Rückrufkostenrisikoversicherung). Obwohl die Entstehungsgeschichte der Vorschrift eindeutig gegen dieses Verständnis spricht, ist sie bei der Auslegung von allgemeinen Versicherungsbedingungen aber nach Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nicht zu berücksichtigen. Anders als beim „Rechtsmangel“ kann auch ein eindeutiger rechtlicher Bedeutungsgehalt nicht ohne Weiteres angenommen werden. Insoweit lässt sich in Bezug auf die Entwaldungsverordnung über Erwägungsgrund 59 der Entwaldungsverordnung gedanklich ein Bezug zu Personenschäden konstruieren. In Bezug auf die Zwangsarbeitsverordnung dürfte diese Argumentation deutlich leichter fallen.