Obsoleszenz in der automobilen Lieferkette entsteht, wenn angeschafftes Vormaterial oder bereits produzierte Serienteile für die weitere Serienproduktion überflüssig oder ungeeignet werden und nicht anderweitig verwendbar sind. Typischerweise tritt Obsoleszenz auf, wenn der Abnehmer seine Abrufe im Vergleich zu den Planvolumen herabsetzt oder Fahrzeugmodelle frühzeitig auslaufen lässt. Auch bei einer verzögerten Markteinführung und dem damit verbundenen späteren Produktionsstart können überschüssige Lagerbestände entstehen, wenn bereits angeschafftes Vormaterial aufgrund seiner Materialeigenschaften nach gewisser Zeit nicht mehr für die Serienproduktion verwendbar ist.
In diesen Situationen stellt sich die Frage, ob ein Zulieferer von seinem Abnehmer Entschädigung für überschüssige Bestände verlangen kann.
Der Bedarf der Automobilhersteller ist volatil. Aus diesem Grund werden mittel- und langfristige Stückzahlen (z.B. Jahres- oder Projektvolumen) in der Praxis über die gesamte automobile Lieferkette hinweg fast immer nur als Schätzungen und Planmengen mitgeteilt, aus denen noch kein Anspruch auf Abnahme und Zahlung folgt. Verbindliche Liefermengen ergeben sich stattdessen aus den in Abrufen mitgeteilten kurzfristigen Liefermengen in Verbindung mit den dafür vorgesehenen Produktions- und Materialfreigabezeiträumen. Im Umfang der Freigabezeiträume ist der Abnehmer dann zur Abnahme und Zahlung verpflichtet.
Insgesamt ergibt sich in bedarfsgesteuerten Abrufsystemen eine gemeinsame, durch Kooperation geprägte Verantwortlichkeit zur Vermeidung von Obsoleszenz. Ob der Zulieferer für überschüssige Lagerbestände Entschädigung verlangen kann, hängt deshalb insbesondere davon ab, ob die Vorratsbildung angesichts der vertraglichen Vereinbarungen und der sonstigen Gegebenheiten angemessen war und ob Bedarfsänderungen rechtzeitig weitergegeben wurden.
Vertragliche Ansprüche auf Abnahme und Zahlung ergeben sich zunächst aus den allgemein vereinbarten Produktions- und Materialfreigaben. Üblich sind vergleichsweise kurze Freigabezeiträume von oftmals nicht mehr als acht Wochen. Diese Zeiträume decken sich jedoch sehr häufig nicht vollumfänglich mit den Vorlaufzeiten für die Materialbeschaffung auf Seiten des Zulieferers. Vertragliche Entschädigungsansprüche, die über die Freigabezeiträume hinausgehen, können sich jedoch aus zusätzlichen Umständen ergeben, zum Beispiel:
Zusätzliche Produktions- und Materialfreigaben:
Ergänzend zu den allgemeinen Produktions- und Materialfreigaben kann es im Einzelfall zu weiteren (ggf. informellen) Freigaben zwischen den Parteien gekommen sein. Diese können zusätzliche Produktions- und Vormaterialmengen abdecken und weitere Zahlungs- und Abnahmeansprüche auslösen.
Zeitlich weiterreichende Freigabezeiträume durch individuelle Vertragsabreden:
Häufig finden sich Produktions- und Materialfreigaben im Supplier Manual, den Einkaufsbedingungen oder sonstigen formularmäßigen Vertragsdokumenten. Bei diesen Dokumenten handelt es sich in der Regel rechtlich um Allgemeine Geschäftsbedingungen. Wenn man sich auf den Bezug bestimmter Vormaterialien geeinigt hat, deren notwendige Beschaffungszeiten den formularmäßigen Materialfreigabezeitraum objektiv erkennbar nicht unwesentlich überschreiten, kann darin eine vorrangige individuelle Abrede über längere (angemessene) Materialfreigabezeiträume liegen.
Vertragliche Regelungen zu Vertragsbeendigung oder Volumenrückgängen:
Daneben kommen Entschädigungsansprüche aus vertraglichen Regelungen über die Rechtsfolgen von Vertragsbeendigung und Volumenrückgängen in Betracht, etwa ein vereinbarter Amortisationssicherungsanspruch für getätigte Investitionen in die Serienbelieferung.
Ob neben den allgemeinen Produktions- und Materialfreigabezeiträumen zusätzliche vertragliche Anspruchsgrundlagen auf Entschädigung für überschüssige Lagerbestände in Betracht kommen, hängt damit von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab.
Mögliche Entschädigungsansprüche können sich außerdem aus gesetzlichen Anspruchsgrundlagen ergeben.
In Frage kommen vor allem Schadenersatzansprüche wegen der Verletzung von Rücksichtnahme- und Treuepflichten. Hat der Abnehmer etwa Volumenschwankungen oder SOP-Verschiebungen pflichtwidrig nicht oder nicht rechtzeitig weitergegeben, kann dem Zulieferer ein Anspruch auf Schadenersatz gegen seinen Abnehmer zustehen. Dies kann insbesondere Fälle betreffen, in denen der Abnehmer seinen Zulieferer außerhalb von Produktions- und Materialfreigaben zur frühzeitigen Beschaffung von Vormaterial oder zur Produktion von Serienteilen gedrängt hat, die letztendlich aus Gründen, die in der Sphäre des Abnehmers liegen, nicht mehr benötigt werden. Doch selbst bei einem pflichtwidrigen Verhalten des Abnehmers wird in der Regel keine uferlose Bevorratung erstattungsfähig sein, sondern nur ein der konkreten Lieferbeziehung angemessener Lagerbestand.
Ob überschüssige Lagerbestände erstattungsfähig sind, hängt von der konkreten vertraglichen Risikoverteilung und den Umständen des Einzelfalls ab. Von besonderer Bedeutung ist dabei, ob die Vorratsbildung unter Beachtung der vertraglichen Vereinbarungen und der Umstände der konkreten Lieferbeziehung angemessen war und ob der Abnehmer Bedarfsänderungen rechtzeitig und ausreichend an seinen Zulieferer kommuniziert hat.
Aufgrund dieser Einzelfallabhängigkeit ist für die Prüfung von möglichen Erstattungsansprüchen für überschüssige Lagerbestände eine möglichst umfassende Aufarbeitung der Sach- und Rechtslage unumgänglich.