Über 20 Jahre nach Inkrafttreten des § 128a ZPO könnten sie nun endlich gängige Realität werden: Gerichtsverfahren via Videokonferenz.
Die Corona-Pandemie sorgte für den nötigen Anstoß, um die Politik zu einer grundlegenden Reform virtueller Gerichtsverfahren zu bewegen. Bereits dem Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2021 lassen sich diverse Digitalisierungsvorhaben hinsichtlich der Gerichtsbarkeit entnehmen. Nach dem Referentenentwurf des Bundesministeriums für Justiz (BMJ) vom 23. November 2022 folgte der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten vom 24. Mai 2023. Dieser wurde nunmehr am 17. November 2023 samt einiger Änderungen vom Bundestag beschlossen. Neu ist vor allem die Möglichkeit der sogenannten vollvirtuellen Videoverhandlung gemäß § 128a Abs. 6 ZPO-E. Demzufolge soll auch der oder die Vorsitzende in geeigneten Fällen die Verhandlung aus dem Homeoffice leiten können. Jedoch hat der Rechtsausschuss dem Bundesrat am 4. Dezember 2023 empfohlen, den Vermittlungsausschuss mit dem Ziel einzuberufen, das Gesetz grundlegend zu überarbeiten.
Sowohl der Referentenentwurf des BMJ aus 2022 als auch der kürzlich beschlossene Gesetzentwurf legen diverse Änderungen unterschiedlicher Prozessordnungen nahe. Unter anderem sind eine audiovisuelle Aufzeichnung der mündlichen Verhandlung anstelle einer bloßen Tonaufzeichnung gemäß § 160a ZPO sowie die virtuelle Abgabe von Anträgen zu Protokoll anstelle einer Erklärung in persona gemäß § 129a ZPO geplant. Im Vordergrund der beabsichtigten Reformen steht jedoch stets die Anpassung des § 128a ZPO.
a) Das Gericht kann den Verfahrensbeteiligten nach derzeitiger Rechtslage gemäß § 128a Abs. 1 ZPO auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, virtuell an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Auch bei Vorliegen der Gestattung zum virtuellen Verfahren bleibt es den Parteien derzeit jedoch weiterhin möglich, persönlich zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen. Eine Pflicht zur Teilnahme durch Videokonferenz besteht mithin nicht. Der oder die Vorsitzende kann die Videoverhandlung selbst dann ablehnen, wenn beide Parteien diese wünschen. Dem Gericht kommt demnach hinsichtlich der Entscheidung über die virtuelle Verhandlung ein uneingeschränktes Ermessen zu.
b) Der aktuelle Gesetzentwurf sieht gemäß § 128a ZPO-E Folgendes vor:
c) Dem aktuellen Gesetzentwurf zufolge kann der Vorsitzende gemäß § 128a Abs. 2 ZPO-E auf Antrag eines Verfahrensbeteiligten oder von Amts wegen, die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung per Bild- und Tonübertragung für einen Verfahrensbeteiligten, mehrere oder alle Verfahrensbeteiligte gestatten oder gar verbindlich anordnen. Bereits bei einem Antrag eines oder einer Verfahrensbeteiligten zur Teilnahme per Bild- und Tonübertragung, soll die oder der Vorsitzende die Übertragung gemäß § 128a Abs. 2 ZPO-E anordnen. Lehnt das Gericht einen solchen Antrag ab, so muss es dies laut § 128a Abs. 2 ZPO-E begründen. Daneben besteht für die Verfahrensbeteiligten die Option, die Ablehnungsentscheidung des Gerichtes nach § 128a Abs. 5 ZPO-E anzufechten. Im Ergebnis erhöhen (1) die Anordnungsmöglichkeit als Alternative zur bloßen Gestattungsmöglichkeit, (2) die Begründungspflicht bei Ablehnung sowie (3) die Ermessenseinschränkung des Gerichts durch die Soll-Vorschrift die Chancen auf eine künftige virtuelle Sitzungspraxis. Dennoch sind weite Teile der Referenten- und Gesetzentwürfe eher zurückhaltend formuliert.
Zur Debatte steht außerdem, wo sich ehrenamtliche Richterinnen und Richter, die in der Arbeitsgerichtsbarkeit eine wichtige Rolle spielen, für die Zeit der Videokonferenz aufhalten müssen. Der Gesetzentwurf sieht in § 128a Abs. 3 S. 2 ZPO-E die Möglichkeit vor, eine Teilnahme ehrenamtlicher Richterinnen und Richter per Bild- und Tonübertragung zu gestatten. Ein Anspruch auf die Videoteilnahme besteht hingegen nicht. Die Teilnahme aus dem privaten Arbeitszimmer wird auf die Parteien jedenfalls eine andere Wirkung entfalten als die tatsächliche Anwesenheit im Gerichtssaal. Insofern erscheint fraglich, ob im Rahmen des virtuellen Gerichtsverfahrens die Autorität des Spruchkörpers hinreichend zum Tragen kommt.
Sollte eine Partei nicht mit der für alle Verfahrensbeteiligten verbindlich angeordneten Videoverhandlung einverstanden sein, sondern eine Verhandlung vor Ort im Sitzungssaal wünschen, kann sie gegen die Anordnung gemäß § 128a Abs. 5 ZPO-E innerhalb einer Frist von zwei Wochen Einspruch einlegen. Dieser muss nicht begründet werden. Sodann ist die oder der Vorsitzende dazu verpflichtet, die Anordnung der Videoverhandlung für alle Verfahrensbeteiligten aufzuheben. In diesem Fall soll der Vorsitzende den Verfahrensbeteiligten, die keinen Einspruch eingelegt haben, die Teilnahme per Bild- und Tonübertragung gestatten.
Um den Grundsatz der Öffentlichkeit aus § 169 Abs. 1 S. 1 GVG auch bei vollvirtuellen Videoverhandlungen zu wahren, müssen die Gerichte gemäß § 16 Abs. 1 ZPOEG-E die unmittelbare Teilnahme der Öffentlichkeit an der Videoverhandlung ermöglichen. Die konkrete Ausgestaltung und die Herstellung der Rahmenbedingungen sollen Bundes- und Landesverordnungen regeln. Dabei kann beispielsweise die Bereitstellung eines Zugangslinks erprobt werden. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sollen durch das BMJ evaluiert werden.
Zudem ist bei vollvirtuellen Verhandlungen laut § 128a Abs. 6 ZPO-E die Öffentlichkeit herzustellen, indem die Videoverhandlung in Bild und Ton an einen öffentlich zugänglichen Raum, z. B. durch Einrichtung eines Übertragungsraums, im zuständigen Gericht übertragen wird. Der Übertragungsraum im Gericht muss dabei laut Gesetzentwurf kein Sitzungssaal im rechtlichen Sinne zu sein. Zwingend notwendig ist lediglich, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer das Geschehen im Rahmen der Videoverhandlung in Echtzeit verfolgen können. Denkbar sei sogar, mehrere Sitzungen parallel im Übertragungsraum auszustrahlen, um noch mehr Ressourcen zu sparen. Aufgrund der Übertragung bleibt die Möglichkeit der Kontrolle justizieller Verfahren durch die Öffentlichkeit mithin erhalten.
Um die Theorie in der Praxis auch tatsächlich umsetzen zu können, müssen die dafür erforderlichen technischen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Während Kanzleien und private Haushalte wohl technisch hinreichend für eine virtuelle Verhandlung gewappnet sein dürften, könnte die derzeit mangelnde Ausstattung der Gerichte zum Hindernis virtueller Sitzungen werden. Schließlich benötigt das Gericht im jeweiligen Sitzungszimmer bzw. im Übertragungsraum ausreichend Bildschirme und Kameras. Das BMJ geht zwar davon aus, dass bereits ca. 435 digitalisierte, videokonferenzfähige Gerichtssäle existieren. Daneben könne eine Nutzung der Videokonferenztechnik auch über webbasierte Anwendungen und Computer erfolgen. Eine den Anforderungen gerecht werdende technische Ausstattung findet man bisher jedoch noch längst nicht an allen Gerichten. Insbesondere die ordentlichen Gerichte sind derzeit technisch noch nicht bereit, flächendeckend virtuelle Verfahren durchzuführen.
Neben dem Erfordernis der ausreichenden Ausstattung mit der entsprechenden Hardware stellt sich ferner die entscheidende Frage nach der anwendbaren Software. Eine eigens für die deutsche Gerichtsbarkeit erstellte Software (ähnlich dem beA) besteht derzeit noch nicht. Mit Blick auf die gängigen, kommerziellen Lösungen, z. B. Microsoft Teams, Zoom oder Webex, muss stets die Zugriffsmöglichkeit für die Beteiligten beachtet werden. Daneben bestehen datenschutzrechtliche Bedenken. Die Persönlichkeitsrechte aller zu sehenden und zu hörenden Personen müssen jederzeit vor Beeinträchtigungen im Rahmen von unerlaubten Aufzeichnungen durch andere Verfahrensbeteiligte oder Dritte geschützt werden. Zur konkreten Gestaltung, Veröffentlichung, Zugänglichkeit und Handhabung einer solchen Anwendung ist jedoch bisher noch nichts Näheres bekannt. Weder im Referentenentwurf des BMJ noch im aktuellen Gesetzentwurf wird der Einsatz einer einheitlichen Software abschließend geklärt.
Ist eine zeitgleiche Bild- und Tonübertragung nicht möglich oder wird sie aus technischen Gründen gestört, muss der oder die Vorsitzende die mündliche Verhandlung letztlich unter- oder sogar abbrechen und vertagen (OLG Celle, Beschluss vom 15. September 2022 – 24 W 3/22). Anderenfalls käme ein Verstoß gegen den Grundsatz der Mündlichkeit (§ 128 Abs. 1 ZPO), den Grundsatz der Öffentlichkeit (§ 169 Abs. 1 S. 1 GVG) und den Grundsatz der Unmittelbarkeit (§§ 128 Abs. 1, 355 Abs. 1 S. 1 ZPO) sowie den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG in Betracht. Erst kürzlich hatte der Bundesfinanzhof (BFH) entschieden, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt sei, wenn die im Gericht anwesende Partei den Kopf um 180 Grad drehen muss, um die Bildübertragung des Gegners sehen zu können (BFH, Beschluss vom 18. August 2023 – IX B 104/22). Erscheint eine Partei wiederum trotz ordnungsgemäßer Ladung und angeordneter Videoverhandlung nicht am Ort der audiovisuellen Übertragung, so gilt diese als nicht erschienen. Die gegnerische Partei kann dann einen Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils stellen.
Einige Besonderheiten ergeben sich speziell für die Arbeitsgerichtsbarkeit. Nach geltender Rechtslage wird gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG auf die Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung nach den Vorschriften der ZPO verwiesen. Geplant ist nun allerdings die Einführung einer gesonderten arbeitsgerichtlichen Regelung im Rahmen des § 50a ArbGG-E:
Diese Bestimmung soll ebenso wie § 128a ZPO ausdrücklich auf die Möglichkeit der mündlichen Verhandlung als Videoverhandlung hinweisen. Dabei bleibt es im Rahmen des § 50a ArbGG-E jedoch bei der bloßen Gestattung einer solchen Videoverhandlung durch das Gericht. Im Gegensatz zur geplanten Erweiterung des § 128a ZPO soll es an Arbeitsgerichten gerade keine Möglichkeit der verbindlichen Anordnung zur Videoverhandlung durch das Gericht geben. Dadurch soll den Besonderheiten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens Rechnung getragen werden. Vor allem arbeitsrechtliche Streitigkeiten, z. B. um das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses, sind für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oft von existenzieller Bedeutung. Vor diesem Hintergrund könnte ein Aufeinandertreffen auf dem bloßen Bildschirm, auf dem feine Unterschiede durch die Körpersprache o. ä. schwerer erkennbar sind, in vielen Fällen zu kurz kommen.
Auch der Wunsch und das Bedürfnis in Güteverhandlungen bzw. in jedem Verfahrensstadium auf die gütliche Einigung hinzuwirken, dürfte bei einem persönlichen Zusammentreffen aller Beteiligten in persona besser umsetzbar sein als bei vollvirtuellen Videoverhandlungen. Schließlich wird insbesondere vor den Arbeitsgerichten ein Rechtsstreit statistisch gesehen nur selten rein rechtlich entschieden, sondern der Großteil der Verfahren endet im Wege einer gütlichen Einigung.
Virtuelle Verfahren sollen eine Erweiterung der Verhandlungsmöglichkeiten des Gerichts ermöglichen und die Funktionsfähigkeit des Gerichtes garantieren.
Die Digitalisierung des Gerichtsverfahrens ist im Ergebnis als Chance zu sehen. Damit ein möglichst störungsfreies Verhandeln ermöglicht wird, müssen jedoch sowohl seitens der Parteien als auch seitens der Gerichte die technischen Voraussetzungen garantiert sein. Vor allem für Letztere besteht nach wie vor dringend Handlungsbedarf bezüglich des Ausbaus einer flächendeckenden IT-Infrastruktur.
Inwiefern sich die Gesetzesänderungen hinsichtlich einer digitalen Gerichtsbarkeit auch ohne weltweite Pandemie auswirken werden, bleibt abzuwarten. Insbesondere die geplante Änderung des § 128a ZPO erscheint unter Berücksichtigung des Gesetzentwurfes und dessen aktueller Beratung durchaus wahrscheinlich.
Ob virtuelle Gerichtsverfahren letzten Endes zum Regelfall werden und mündliche Verhandlungen mit körperlicher Anwesenheit der Parteien im Gerichtssaal (vollständig) ersetzen, wird die Praxis zeigen. Fest steht: Ein persönlicher Auftritt entfaltet nach wie vor eine andere Wirkung als die bloße Anwesenheit auf dem Bildschirm des Gegenübers.
• Referentenentwurf des BMJ vom 23. November 2022: RefE_Videokonferenztechnik.pdf (bmj.de)
• Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 24. Mai 2023: (Microsoft Word - RegE_Gesetz zur Förderung Videokonferenztechnik \(bereinigt\).docx) (bmj.de)
• Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 23. August 2023 (Drucksache 20/8095): Drucksache 20/8095 Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten (bundestag.de)
• Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung (Drucksache 20/8095) vom 15. November 2023 (Drucksache 20/9354): Deutscher Bundestag Drucksache 20/9354 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung – Drucksache 20/8095 – Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten
• Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP: Koalitionsvertrag (bundesregierung.de)
• Gesetzentwurf der Bundesregierung zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (Drucksache 20/8096): Deutscher Bundestag Drucksache 20/8096 Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz – DokHVG)
• Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung – Drucksache 20/8096 – Entwurf eines Gesetzes zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz – DokHVG), Drucksache 20/9359: Deutscher Bundestag Drucksache 20/9359 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung – Drucksache 20/8096 – Entwurf eines Gesetzes zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz – DokHVG)
• Empfehlung des Rechtsausschusses für den Bundesrat zur Einberufung des Vermittlungsausschusses, Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten, Drucksache 604/1/23: Deutscher Bundesrat Drucksache 604/1/23 Empfehlung der Ausschüsse zu dem Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten